Zum Stand der Interdisziplinarität in den Digital Humanities: Perspektiven aus dem Bereich der Social-Media-Forschung

Katharina Kinder-Kurlanda, Katrin Weller

In diesem Beitrag betrachten wir die Digtal Humanities (DH) als interdisziplinäres Projekt und möchten die im Call aufgeworfene Frage danach, wie Geisteswissenschaften und Informatik im Rahmen dieses Forschungsprogrammes produktiv zusammenarbeiten können, adressieren. Unter welchen Umständen eine Zusammenarbeit besonders vielversprechend scheint, stellen wir am Beispiel der Social-Media-Forschung dar. Social-Media-Dienste und ihre Nutzer rücken zurzeit in verschiedenen disziplinären Kontexten in den Blickpunkt der Forschungsaktivitäten. Beispiele umfassen unter anderem die Untersuchung von Wahlkampf-Kommunikation in der Politikwissenschaft, Auswertungen zum Online-Sprachgebrauch in der Linguistik oder die Anwendung von Netzwerk-Modellen in Informatik und Physik. In einem laufenden Projekt erarbeiten wir derzeit eine Bestandsaufnahme zu Perspektiven und Methoden der Social-Media-Forschung. Hierzu führen wir qualitative Experteninterviews mit Wissenschaftlern durch, die verschiedene Forschungsschwerpunkte verfolgen, aber jeweils Daten aus Social-Media-Diensten für ihre Forschung nutzen.

In diesem Zusammenhang spielen Erfahrungen mit Interdisziplinarität eine große Rolle. Vielfach trafen wir auf konkrete Projekte interdisziplinärer Zusammenarbeit, die versuchen, informatische Verfahren der Berechenbarkeit mit geistes- sozial- und medienwissenschaftlichen Ansätzen zu verknüpfen. Dies liegt zu einem großen Maß in den Eigenschaften des Forschungsgegenstands „Social Media“ begründet. Aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Arbeit mit Social-Media-Daten oftmals als „Big Data“ dar, die nicht ausschließlich mit traditionellen Verfahren erarbeitet werden sollte: die Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen verspricht unterschiedliche Blickpunkte und Herangehensweisen zur Auseinandersetzung mit dem Thema und damit einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Die Social-Media-Forschung eignet sich daher hervorragend für eine Betrachtung der Rolle von Interdisziplinarität in der Erschließung der Potentiale von Big Data, wobei unter anderem sozial- und geisteswissenschaftliche sowie mathematisch-informatische Herangehensweisen zu betrachten sind.

Im Folgenden stellen wir zentrale Ergebnisse unseres Projektes vor. In einer ersten Projektphase haben wir uns speziell mit geistes-, sozial-, und medienwissenschaftlich orientierten Social-Media-Forschenden beschäftigt. Dies ermöglicht es uns nun, auszuwerten, wie diese ihre Erlebnisse in der interdisziplinären Zusammenarbeit insbesondere mit Informatikern schilderten und worin aus ihrer Sicht Potentiale aber auch Schwierigkeiten beim Einbeziehen der spezifischen Ansätze der Informatik in den jeweiligen Projekten lagen.[1] Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Diskussion um das Potential der Informatik in den DH einzubringen und diese aus Sicht der von uns befragten Forschenden zu beleuchten. Dabei handelt es sich sicherlich um eine spezielle Fallstudie, da die Beobachtung zumeist sozialer Prozesse (‚Social‘ Media) oft eher den Sozial- als den Geisteswissenschaften zugerechnet wird. Es geht uns jedoch hier darum, Erkenntnisse einzubringen, die wir für den Bereich der weiteren DH übertragbar halten.

Potentiale und Schwierigkeiten interdisziplinärer Projektzusammenarbeit

Die von uns befragten Social-Media-Forschenden hatten zumeist bereits damit begonnen, sich Programmier- oder andere technische Kenntnisse zu eigen zu machen um mit Social-Media-Daten arbeiten zu können, meist erwarben sie diese Kenntnisse durch eigene Initiative; alle Befragten stimmten darin überein, dass Social-Media-Forschung informatische Kenntnisse benötigt. Von uns befragte Social-Media-Forschende drückten zudem die Hoffnung aus, dass die Informatik dabei helfen könne, vormals unlösbare Probleme, speziell in der Big Data Forschung, zu bearbeiten. Zum Beispiel können herkömmliche medien- oder sozialwissenschaftliche Ansätze Phänomene der Meme-Bildung nicht abbilden, da “questions of spread are really hard to get to from a qualitative point of view and even from a quantitative standpoint. I think that it would take some really big systematic work” (so eine der Befragten). Herangehensweisen, die - jenseits des Einsatzes von Skripten und plattformspezifischen APIs - komplexere Programmierkenntnisse, höhere Rechenleistung oder neue Ansätze in der Informatik beinhalten, schienen dann besonders hilfreich, wenn Probleme mit hoher Komplexität, wie sie z.B. durch eine Betrachtung verschiedener Social-Media-Plattformen und Formate entsteht, vorlagen.

Im Hinblick auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit konnten wir feststellen, dass Kollaborationen unmöglich werden können, wenn Vorstellungen über Methodologie und Epistemologie zu sehr voneinander abweichen oder nicht kompatibel sind. Ein Beispiel hierfür ist eine bestimmte Art der qualitativen Datenerhebung, wie sie auch in den Geisteswissenschaften sehr verbreitet ist: wird das Erheben der Daten bereits als Teil des Erkenntnisprozesses gesehen, schließt dies per Definition aus, dass auch Dritte die Analyse dieser Daten vornehmen können. Epistemologische Differenzen sind ein für die Zusammenarbeit zwischen Geistes- oder Sozialwissenschaftlern und Informatikern typisches Problem, da bestimmte Forschungs-Paradigmen nur schwer miteinander vereinbar sind. Wenn beispielsweise zahlreiche Projekte in der Informatik darauf aufbauen, Systeme oder Lösungen auf Basis einer neuen Annahme über die Welt aufzusetzen, so widerspricht dies hermeneutischen wie auch konstruktivistischen Forschungsansätzen, nach denen Begriffsdefinitionen und die Beobachtung und Infragestellung neuer Annahmen selbst Ziel der Forschung ist[2] . Gerade das Ziel der DH, technische Methoden und hermeneutische Paradigmen zu vereinen scheint auch an ein praktisches Hindernis in Bezug auf die in den jeweiligen Disziplinen publizierbaren Ergebnisse zu stoßen, die jedoch oft innerhalb von Projekten die strategischen Entscheidungen über das Vorgehen bestimmen.

Oft stellte sich als Schwierigkeit innerhalb der Projektzusammenarbeit zudem die Tatsache heraus, dass nicht auf Augenhöhe zusammengearbeitet wurde, beispielsweise wenn Informatikern im Social-Media-Projekt ausschließlich die aus Sicht informatischer Forschungsinteressen wenig attraktive Aufgabe des ‚Datensammelns‘ zugeteilt wurde[3]. Umgekehrt beschreiben die eher sozial-und geisteswissenschaftlichen Social-Media-Forschenden wiederum eine Art Problemorientiertheit der Informatik-Kollegen: Diese sähen Nicht-Informatiker im Projekt häufig als "an end user that they need to provide a technological solution for“, und nicht als gleichberechtigte Partner in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem Ziel des Weiterentwickelns und Infragestellens von Methoden und Paradigmen.

Erwartete Beiträge für die Social-Media-Forschung aus der Informatik

Besonders attraktiv für Social-Media-Forschende in unserer Befragung war die Verfügbarkeit ‘neuer’ Daten (“Oh my gosh, we have this amazing data!”). Mithilfe von informatischen Methoden gesammelte (gecrawlte) und bearbeitete Daten sind einfacher und schneller zu erlangen als etwa Umfrage- oder Interviewdaten und haben zudem den Vorteil, dass Forschungsfragen angepasst und während der Erhebung erweitert oder verändert werden können. Die oft aus solchen Ansätzen folgende ‚datengetriebene‘ Forschung und das Problem eines naiven Induktivismus ist allerdings auch einer der größten Kritikpunkte an der sich entwickelnden Big Data / Social-Media-Forschung – sowohl bei den von uns befragten Social-Media-Forschenden selbst als auch in der Literatur (siehe z.B. Frické 2014).

Die Möglichkeit zur unmittelbaren Beobachtung von in situ - Kommunikation und Ereignissen, die durch das Beforschen von Social-Media-Daten möglich wird, wurde ebenfalls geschätzt. Vormals nur schwer oder unmöglich zu beobachtende Aspekte menschlicher Aktivität werden analysierbar - etwa Diskussionen über politische Ereignisse oder Proteste. Damit werden durch die Verfügbarkeit von Social-Media-Daten neue Möglichkeiten zur Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse eröffnet. Das Verhältnis zwischen Internet und Gesellschaft wird von den Forschenden dabei als komplex wahrgenommen: das Internet ermöglicht die Beobachtung der Gesellschaft, diese beobachtet sich jedoch auch selbst „for the first time (…) in a new way” und wird wiederum von dieser Selbstbeobachtung beeinflusst.

Interdisziplinarität als Herausforderung in den DH

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen der Social-Media-Forschung stellte sich in unserer Untersuchung dann als besonders schwierig heraus, wenn unterschiedliche Ideen über Validität oder Aussagekraft von Datenkorpora, über best practice, oder über Forschungsinteressen bestanden. Unterschiedlichen Standpunkte stellen ein typisches Hindernis in der interdisziplinären Zusammenarbeit dar (Brewer 1999), scheinen jedoch gerade in der Bewertung sowohl der neu verfügbaren Daten als auch der neu angewendeten (informatischen) Methoden oft zu kritischen Streitpunkten in interdisziplinären Kollaborationen zu werden.

Wir folgern aufgrund der Ergebnisse unserer Forschung dass, um ein erfolgreiches Zusammenarbeiten von Informatik und Geisteswissenschaften im Rahmen der DH zu ermöglichen, epistemologische Grundlagen diskutiert werden müssen. Innerhalb von Projekten ist eine erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit nur dann möglich, wenn die Art und Weise wie innerhalb der angewendeten Methoden eine in den jeweiligen Disziplinen akzeptierte Validität der Forschung erreicht wird, übereinstimmen – oder sich zumindest nicht widersprechen.

Literatur:

  • Brewer, G.D. (1999): The challenges of interdisciplinarity. Policy Sciences 32: 327-337.
  • Frické, M. (2014): Big data and its epistemology. Journal of the Association for Information Science and Technology JASIST, Article first published online: 2 May 2014, DOI: 10.1002/asi.23212
  • Heyer, G., Niekler, A., Wiedemann, G. (2014): Brauchen die Digital Humanities eine eigene Methodologie? Überlegungen zur systematischen Nutzung von Text Mining Verfahren in einem politikwissenschaftlichen Projekt. In: 1. Jahrestagung der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd 2014).
  • Kinder-Kurlanda, K. E., Weller, K. (2014): “I always feel it must be great to be a hacker!”: The role of interdisciplinary work in social media research. In Proceedings of the 2014 ACM conference on Web Science, 91-98. New York: ACM. Online: http://www.sheridanprinting.com/14-websci4chRV610jmp/docs/p91.pdf.
  • Kinder-Kurlanda, K. E. (2014): Ethnography in a computer science centered project. ICC'14 Workshop, ACM WebSci'14 Conference, Bloomington. Online: http://www.icc.ecs.soton.ac.uk/papers/icc14_submission_2.pdf.

 

Über die Autorinnen

Katharina Kinder-Kurlanda ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet seit mehr als zehn Jahren im Grenzgebiet zwischen Kulturanthropologie und Informatik. Sie forscht interdisziplinär zur Epistemologie von Big Data, zu Empirical Secure Software Engineering und zum Internet of Things und leitet das Secure Data Center beim GESIS Leibniz Institut für Sozialwissenschaften. Ihren PhD erhielt sie von der Lancaster University , wo sie eine Ethnografie im Rahmen eines interdisziplinären Projektes zu Ubiquitous Computing durchführte. Sie hat in Tübingen und Frankfurt am Main Kulturanthropologie, Informatik und Geschichte studiert.

Katrin Weller ist Informationswissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkten im Bereich Web Science, Social-Media-Analyse und Science 2.0 und beim GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften für Social-Media als sozialwissenschaftliche Forschungsdatenquelle zuständig. Sie studierte Geschichte, Medienwissenschaft und Informationswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und promovierte dort 2010 zum Thema „Knowledge Representation in the Social Semantic Web“. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit ForscherInnen verschiedener Disziplinen wie (Bio-)Informatik, Linguistik, Erziehungswissenschaft und Jura.


  1. [1] Die hier dargestellten Ergebnisse basieren auf zwanzig qualitativen Interviews mit Social Media Forschenden aus Europa, Amerika und Australien. Eine umfassendere Darstellung des Forschungsprojektes ‚The Hidden Data of Social Media Research‘ und des Themas Interdisziplinarität findet sich in: Kinder-Kurlanda & Weller (2014).
  2. [2] Vgl. zu diesem Thema ausführlicher: Kinder-Kurlanda (2014).
  3. [3] Heyer et al. (2014) beschreiben dieses Problem ebenfalls.