Differenzerfahrung und Wissensarbeit – Zwei Paradigmen zur wechselseitigen Befruchtung von Informatik und den Kulturwissenschaften

Reinhard Keil
Heinz Nixdorf Institut, Universität Paderborn
Reinhard.Keil@uni-paderborn.de

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Überlegungen basieren auf Erfahrungen bei der Durchführung von zwei Projekten im Bereich der Digital Humanities und der Beteiligung an der (erfolgreichen) Antragstellung eines Zentrums für Digital Humanities an der Universität Paderborn, das seine Arbeit zum 1. September aufnimmt.

Kurzfassung

Traditionell tun sich die Geisteswissenschaften und die Informatik noch schwer in der Zusammenarbeit, scheinen doch die beiden Wissenschafts- und Wissenskulturen nicht nur unverbunden nebeneinander zu stehen, sondern sich in Teilen sogar zu widersprechen – zumindest dann, wenn es um die formale Modellierung von Wissen geht (vgl. Osterloh 2006), tauchen Begriffe wie hermeneutische Auslegung, Interpretation und Deutung auf, die einer Formalisierung grundsätzlich zu widersprechen scheinen.
Dies ändert sich jedoch, wenn man nicht mehr davon ausgeht, Wissen vollständig formal modellieren zu wollen, sondern teilweise auf algorithmischen Ableitungen basierende Ergebnisse nutzt, um neue Einsichten über den Gegenstandsbereich zu gewinnen (Differenzerfahrung). Ähnlich der wissenschaftlichen Visualisierung ist es mit vielen Informatikmethoden möglich, strukturelle Zusammenhänge offenzulegen, ohne zugleich den Anspruch zu erheben, den Gegenstand selbst erschöpfend modelliert zu haben. Statistische Analysen großer Textcorpora (Big Data) gehören z.B. ebenso zu diesem Methodenrepertoire wie Ontologien (wobei schon der Plural eine informatikspezifische Sicht verdeutlicht). Stellt man das Paradigma der Differenzerfahrung in den Vordergrund, geht es nicht mehr darum, wer die Deutungshoheit über einen Gegenstandsbereich innehat oder ob dieser überhaupt einer formalen Behandlung zugänglich ist, sondern mit welchen Teilstrukturen, Differenzierungen und alternativen Gegenüberstellungen neue Einsichten über den Gegenstandsbereich gewonnen werden können (vgl. Keil 2010 sowie Schulte et al. 2011). Da es hier um das Wechselspiel zwischen Verstehen und Modellieren geht, ist ein interdisziplinärer Zugang unerlässlich.
Das Paradigma der Differenzerfahrung dient ebenso wie das Paradigma der Wissensarbeit (siehe Drucker 1957) der Unterstützung der Forschungsarbeit und des (interdisziplinären) Forschungsdiskurses. Hier geht es u.a. darum, ein Gestaltungsrepertoire bereit zu stellen, das es gestattet, kooperative und verteilte Forschungsarbeiten zu unterstützen, indem Wissensartefakte (vgl. das Konzept der Boundary Objects in Starr, Griesemer 1989) unter Bezug auf vorhandene Repositorien Gegenstand der Manipulation und des Diskurses sind. Dieses Wissen muss über teilweise große Zeiträume hinweg erschlossen, tradiert, über verteilte Standorte hinweg zusammengeführt und wieder verteilt werden. Dabei gilt es, bedeutsame Verknüpfungen zwischen Medienobjekten zu erkennen, die in dieser Form nicht explizit angelegt und physisch repräsentiert sind.
Dabei tritt eine Fülle von Fragen auf, die sowohl für die Modellierung auf Seiten der Informatik als auch für die Analyse und Handhabung auf Seiten der Geisteswissenschaften, denn mit digitalen Medien ist es möglich, das Objekt der Wahrnehmung zugleich zum Objekt des Handelns und der Manipulation zu machen. Was sind beispielsweise bei einer musikalischen Notation die einzelnen Objekte? Einzelne Noten, Takte, etc. Und wie sieht die Reichweite der Zeichen aus, d.h. auf welchen Bereich der nach folgenden Zeichen beziehen sie sich? Will man hier unterschiedliche Interpretationen zulassen, muss man einen Weg finden, diese auch in der digitalen Welt zu repräsentieren. Damit tritt erneut eine Fülle von Fragen auf, die von der Handhabbarkeit über die Modellierung bis hin zur Entwicklung von Werkzeugen reicht, mit denen z.B. textuelle und nicht-textuelle Medienobjekte unterschiedlicher Granularität verknüpft und adäquat gehandhabt werden können.
Anhand von Beispielen aus den drei oben angegebenen Projektbereichen sollen die beiden hier skizzierten Paradigmen vorgestellt und der Nutzen einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen der Informatik und den Kulturwissenschaften verdeutlicht werden.

Literatur

  • Drucker, P.F. (1957):  The Landmarks of Tomorrow. New York, Harper & Row
  • Keil, R.: Das Differenztheater. Koaktive Wissensarbeit als soziale Selbstorganisation. In: Bublitz, H., Marek, R., Steinmann, C., Winkler, H. (Hrsg.): Automatismen. Wilhelm Fink: München, 2010, S. 205-229
  • Osterloh (2006): Human Resources Management and Knowledge Creation, in: Nonaka, I./ Kazuo, I. (Hrsg.) Handbook of Knowledge Creation, Oxford, Oxford University Press, S. 158-175.
  • Schulte, J.; Keil, R. & Oberhoff, A.: Unterstützung des ko-aktiven Forschungsdiskurses durch Synergien zwischen E-Learning und E-Science. In: Köhler, Th., Neumann, J. (Hrsg.): Wissensgemeinschaften: Digitale Medien - Öffnung und Offenheit in Forschung und Lehre. Münster: Waxmann, 2011, S. 81-91
  • Star, S. L. & Griesemer, J. R. (1989). Institutional Ecology, 'Translations' and Boundary Objects: Amateurs and Professional in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39. Social Studies of Science, 19, 387–420.