Informatik und Digital Humanities: Chancen und Herausforderungen eines ungeklärten Verhältnisses

Autor: Erhard Hinrichs, Allgemeine Sprachwissenschaft und Computerlinguistik, Seminar für
Sprachwissenschaft, Universität Tübingen

Abstract eingereicht zum Workshop "Informatik und die Digital Humanities"; Leipzig, 3.
November 2014

Ziel des Workshops "Informatik und die Digital Humanities“ ist es, das Verhältnis der
Informatik zu den Geistes- und Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum aus der
Sicht der Informatik zu bedenken. Der Call for Papers weist mit Recht darauf hin, dass die
Digital Humanities sich „... nun organisieren und ein klareres Bild dieser Forschungsrichtung
und -methodik zeichnen“. Dennoch ist festzuhalten, dass es sich bei den Digital Humanities
sowohl hinsichtlich ihres Forschungsgegenstandes als auch hinsichtlich ihrer Methodik nach
wie vor um ein „moving target“ handelt, auch wenn die Umrisse des Zielbereichs sich nun
klarer erkennen lassen. Die Heterogenität des Begriffs Digital Humanities rührt nicht zuletzt
von den Geisteswissenschaften und Kulturwissenschaften selbst her, die sich durch eine
große methodische Vielfalt und durch unterschiedliche Forschungs“gegenstände“ wie Texte,
Objekte und Ereignisse auszeichnen. Die Frage nach dem Verhältnis der Informatik zu den
Geistes- und Kulturwissenschaften fordert also eine Gegenfrage oder eine differenzierende
Begriffsklärung bewusst oder unbewusst geradezu heraus.

Führende Vertreter der Digital Humanities sind sich der Schwierigkeiten bei der
Begriffsdefinition der Digital Humanities nur allzu bewusst. In seiner Rede anlässlich der
Auszeichnung mit dem Zampolli Preis auf der Digital Humanities 2014 Tagung, die er im Juli
2014 in Lausanne gehalten hat, betont Ray Siemens, Canada Research Chair in Humanities
Computing und Distinguished Professor in the Faculty of Humanities an der University of
Victoria, daher den Charakter einer sich nach wie vor noch entwickelnden Forschungspraxis
und die Wichtigkeit des „Community Buildings“ und der Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses im Umgang mit innovativen Forschungsmethoden gegenüber Versuchen, die
Digital Humanities als Kampfbegriff zu benutzen, um einzelne geisteswissenschaftliche
Disziplinen und Methoden auszugrenzen, einer Tendenz, vor der auch McCarty (2006)
eindringlich warnt.

Von manchen WissenschaftlerInnen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Geistes- und
Kulturwissenschaft wird die Sinnhaftigkeit des Begriffs der Digital Humanities als solcher
angezweifelt mit dem Hinweis, dass er bestenfalls den Einsatz von computergestützten
Verfahren in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung benennen könne, somit
aber keinen eigenen Gegenstandsbereich ausmachen könne und dürfe. Schließlich gäbe es
ja auch keine Digital Chemistry oder Digital Economics. Schließt man sich dieser Sichtweise
an, so kommt der Informatik für die (digitalen) Geisteswissenschaften, primär die Rolle einer
Hilfswissenschaft zu, um die eigentliche geisteswissenschaftliche Forschung mit Techniken
und Methoden der Informatik zu befördern – eine für InformatikerInnen sicherlich nicht
sonderlich attraktive Rolle und kein hinreichender Grund, eine neue „Bindestrich“-Informatik
zu konstituieren.

Eine tragfähigere, weil reizvollere, Brücke für die Zusammenarbeit zwischen Informatik und
den Geistes- und Kulturwissenschaften bietet Willard McCarty, einer der Pioniere der Digital
Humanities und Empfänger des Roberto Busa Preises (2013), mit dem Begriff der
Modellierung als Kernbegriff für die Digital Humanities an: „The question of modeling arises
naturally for humanities computing from the prior question of what its practitioners across the
disciplines have in common. [...] I argue for modeling as a model of such a practice.“
(McCarty 2008). Dass der Begriff der Modellierung in sich selbst ein schillernder Begriff ist,
der von verschiedenen FachvertreterInnen innerhalb der Digital Humanities durchaus
verschieden und kontrovers interpretiert wird, darauf hat die Panel Session zum Begriff der
Modelling auf der Digital Humanities 2014 in Lausanne, eindrucksvoll aufmerksam gemacht.
Trotz der skizzierten Schwierigkeiten bietet der Begriff der Modellierung die Chance einer
Übertragung und eines Dialogs mit der Informatik, für die der Begriff der komputationellen
Modellierung zentrale Bedeutung hat. Dies betrifft sowohl die angewandte Informatik mit
Methoden der Datenbanktechnologie, des Data Mining, der Mustererkennung und der
Visualisierung, die ohnehin schon wichtige Forschungs- und Anwendungsfelder für die
Informatik und für die Digital Humanities gleichermaßen darstellen und bei der die
geisteswissenschaftlichen Forschungsgegenstände mit semi-strukturierten und Daten eine
wichtige und reizvolle Herausforderung darstellen. Der Begriff der Modellierung bietet aber
auch eine sinnvolle Brücke zu Grundlagenfragen der Informatik, etwa nach dem Begriff der
Komputation als solcher, dessen Verhältnis zum menschlichen Denken und Verstehen
mindestens klärungswürdig ist. Er verweist zugleich über die Geisteswissenschaften hinaus
auf den Zusammenhang mit den Neurowissenschaften und auf das Neurocomputing hin, der
mindestens für die Philosophie des Geistes zu einer innovativen Forschungsrichtung geführt
hat.

Ungeachtet der dabei zu erzielenden neuen Erkenntnisse, bietet der Begriff der Modellierung
die Chance, Methoden der Informatik und der (digitalen) Geisteswissenschaften
gegenüberzustellen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den damit benannten
Einzeldisziplinen auszuloten.

Schließlich bietet der Begriff der Modellierung auch einen Hinweis auf eine mögliche neue
Bindestrich-Informatik. Hier sei vergleichend auf die Konstituierung der Wirtschaftsinformatik
verwiesen, für die ein ebenfalls hinreichend abstrakter Begriff der Modellierung von
Informations- und Kommunikationsprozessen Pate gestanden hat.

Ob eine neue Bindestrichinformatik sinnvoll und zukunftweisend sein kann, wird vermutlich
erst die Zukunft zeigen. Schon jetzt ist zu konstatieren, dass die wissenschaftliche Praxis in
diese Richtung weist. So hat Stanford University, die als hervorragend ausgestattete und
international renommierte Privatuniversität nicht darauf angewiesen ist, ihr Lehr- und
Forschungsportfolio opportunistisch auszurichten, vor kurzem zwei neue interdisziplinäre
Studiengänge auf der Schnittstelle von Geisteswissenschaften und Informatik aus der Taufe
gehoben und sich damit an internationale Trends mit ähnlichen Bemühungen angeschossen;
vgl. http://news.stanford.edu/news/2014/march/facsen-joint-majors-030614.html.

Literaturangaben:

  • Willard McCarty (2006). Tree, Turf, Centre, Archipelago—or Wild Acre? Metaphors and Stories for Humanities Computing. Literary and Linguistic Computing, Vol. 21.1, 1-13.
  • Willard McCarty (2008). Modelling: a Study in Words and Meanings, In: S. Schreibman et al. (Eds). A Companion to Digital Humanities, Wiley Publishers.