Kritische Geodatenanalyse – ein tragfähiger Ansatz für die Digital Humantities zwischen Geographie und Geoinformatik?

Elrick, Tim (Institut für Geographie, Uni Erlangen-Nürnberg, tim.elrick@fau.de)
Kremer, Dominik (Institut für Kulturinformatik, Uni Bamberg, dominik.kremer@uni-bamberg.de)

Nicht erst seit dem Schlagwort „big spatial data“ (Kitchin 2014, Crampton et al. 2013,
Graham/Shelton 2013) erfreut sich die Analyse von georeferenzierten Daten (Geodaten) steigender
Beliebtheit: immer mehr Daten unterschiedlichster Herkunft sind mit einer Georeferenzierung
versehen. Dies macht das Feld der Digital Humanities auch für die Humangeographie und die
Geoinformatik interessant[1].
Einige Forschungstrends in beiden Disziplinen, der Humangeographie und der Geoinformatik,
weisen derzeit inhaltlich erstaunliche Schnittmengen auf: (1) Anstelle von statischen
Strukturmodellen ist eine räumliche (z.B. Mobilität) wie auch zeitliche (z.B. ereignisbasierte)
Dynamisierung bei der Modellierung von Prozessen zu beobachten (Cresswell 2006 für die
Humangeographie, Grenon/Smith 2004 für die Geoinformatik). (2) Ähnlich zum hermeneutischen
Grundverständnis interpretativ arbeitender Ansätze der qualitativen Textanalyse (z.B.
Glaser/Strauss 2009 für die Humangeographie) steht auch bei der Ausgestaltung von Mensch-
Maschine-Schnittstellen beim Sprechen über Räume zunehmend die Operationalisierung als
individueller Aushandlungsprozess zwischen dem Sender und dem Empfänger einer Nachricht im
Vordergrund (z.B. Winter/Freksa 2014 für die Geoinformatik). (3) Verstehen und Handeln wird
dabei immer seltener als rein kognitive (intentionale) Leistung verstanden, sondern als hochroutiniertes
Verhalten in Abhängigkeit von der jeweiligen Sozialisierung (Schatzki 2002 für die
Humangeographie, Davies/Pederson 2001 für die Geoinformatik).
Dabei stellt sich die Frage, welche Wechselbeziehung die beiden genannten Disziplinen eingehen
(können); inwiefern sie produktiv zusammenarbeiten können. Dieser Frage soll anhand des Beispiels
der kritischen Geodatenanalyse nachgegangen werden: Anhand der Forschungen zu
OpenStreetMap, der derzeit größten kollaborativ erzeugten Geodatenbank, wollen wir den Ansatz
der Kritischen Geodatenanalyse vorstellen und die Wechselbeziehungen zwischen
informationstechnischer und geistes-/sozialwissenschaftlicher Herangehensweise diskutieren.
Während in der Geoinformatik Qualität und Abdeckung (z.B. Keßler/de Groot 2013) gemessen und
Aktivitätsmuster der Nutzer (z.B. Neis/Zipf 2012) extrahiert werden, fokussieren
humangeographische Arbeiten im Umfeld der Kritischen Kartographie (Glasze 2009) auf die
gesellschaftlichen Implikationen der zur Verarbeitung der Geodaten genutzten technischen
Verfahren (Bittner 2014). Im Schnittfeld zwischen formaler Repräsentation und inhaltlicher
Interpretation fällt so z.B. auf, dass die Einstiegshürden – anders als in der klassischen Kartographie
– zwar nicht mehr autoritativer Art (z.B. Behörden), dafür aber technischer Art sind, bei der nur
noch wenige Nutzer einer digitalen Elite den Institutionalisierungsprozess überhaupt steuern
können (Graham et al. 2013). Kitchin et al. (2013) fordern daher einen Perspektivwechsel von der
Karte hin zu einem Organisationsprozess von Geodaten. Während geoinformatische
Analysesoftware die funktionalen Abhängigkeiten in der Software beschreiben und die strukturellen
Regularitäten bei ihrer Verwendung offen legen kann (z.B. Kremer/Stein 2014), bieten
humangeographische Studien ein Analyseframework (Bittner et al. 2013), das das Miteinbeziehen
technischer Verarbeitungszusammenhänge für eine Analyse der inhaltlichen Aussagekraft der
Geodaten (z.B. Elrick 2014) mit einbezieht.
Aus diesem interdisziplinären Forschungsbeispiel möchten wir verallgemeinerbare
Herausforderungen und Lösungsansätze bei Forschungsprojekten im Schnittbereich zwischen
Informatik und Kulturwissenschaften ableiten.

Literatur:

  • Bittner, C. (2014). Reproduktion sozialräumlicher Differenzierungen in OpenStreetMap: das Beispiel Jerusalems. Kartographische Nachrichten, 64(3), 136– 144.
  • Bittner, C., Glasze, G., & Turk, C. (2013). Tracing contingencies: analyzing the political in assemblages of web 2.0 cartographies. GeoJournal, 78(6), 935–948.
  • Crampton, J. W., Graham, M., Poorthuis, A., Shelton, T., Stephens, M., Wilson, M. W., & Zook, M. (2013). Beyond the geotag: situating ‘big data’ and leveraging the potential of the geoweb. Cartography and Geographic Information Science, 40(2), 130–139.
  • Cresswell, T. (2006). On the move: mobility in the modern western world. Taylor & Francis.
  • Davies, C., & Pederson, E. (2001). Grid patterns and cultural expectations in urban wayfinding. Spatial Information Theory (pp. 400–414). Springer.
  • Elrick, Tim (2014). Sozialwissenschaftliche tag- Analyse mit OpenStreetMap-Daten am Beispiel religiöser Andachtsstätten in Deutschland. Kartographische Nachrichten 64(3), 152–156.
  • Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (2009). The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. Transaction Publishers.
  • Glasze, G. (2009). Kritische Kartographie. Geographische Zeitschrift, 181–191.
  • Graham, M., & Shelton, T. (2013). Geography and the future of big data, big data and the future of geography. Dialogues in Human Geography, 3(3), 255– 261.
  • Graham, M., Zook, M., & Boulton, A. (2013).< Augmented reality in urban places: contested content and the duplicity of code. Transactions of the< Institute of British Geographers, 38(3), 464–479.
  • Grenon, P., & Smith, B. (2004). SNAP and SPAN:< Towards dynamic spatial ontology. Spatial cognition and computation, 4(1), 69–104.
  • Keßler, C., & de Groot, R. T. A. (2013). Trust as a proxy measure for the quality of Volunteered Geographic Information in the case of OpenStreetMap. Geographic Information Science at the Heart of Europe (pp. 21–37). Springer International Publishing.
  • Kitchin, R., Gleeson, J., & Dodge, M. (2013). Unfolding mapping practices: A new epistemology for cartography. Transactions of the Institute of British Geographers, 38(3), 480–496.
  • Kitchin, R. (2014). Big Data, new epistemologies and paradigm shifts. Big Data & Society, 1(1), 1–12.
  • Kremer, D. & Stein K. (2014). Ein Analyseansatz für Nutzerverhalten auf Basis von OSM-Daten.
  • Kartographische Nachrichten 64(3), 144–152.
  • Neis, P., & Zipf, A. (2012). Analyzing the contributor activity of a volunteered geographic information project—The case of OpenStreetMap. ISPRS
  • International Journal of Geo-Information, 1(2), 146–165. Schatzki, T. (2002). The site of the social: A philosophical exploration of the constitution of social life and change. Pennsylvania State University Press.
  • Winter, S., & Freksa, C. (2014). Approaching the notion of place by contrast. Journal of Spatial Information Science, (5), 31–50.

  1. [↑]Digital Humanities wird hier verstanden als weiter Begriff, der nicht nur geisteswissenschaftliche, sondern auch sozialwissenschaftliche informationstechnisch-gestützte Forschung beinhaltet.