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Organisatorenbeitrag: Digital und Computational Humanities
Gerhard Heyer, Daniel Isemann
Universität Leipzig
Während Informatik und Geisteswissenschaften bisher in ihren Arbeitsmethoden oft eher als Gegenpole aufgetreten sind, anstatt sich auf mögliche Synergien zu konzentrieren, betreten wir mit dem Aufkommen der digitalen Geisteswissenschaften einen neuen Bereich der Interaktion zwischen den beiden Bereichen. Für die Geisteswissenschaften ist dies die Verwendung von computergestützten Methoden, die eine effizientere Forschung und neue Forschungsfragen ermöglichen, die ohne solche Methoden nicht hätten behandelt werden können. Für die Informatik kann die Hinwendung zu den Geisteswissenschaften als einem Anwendungsgebiet ebenso neue Problemstellungen ergeben und dazu führen, vorhandene Ansätze zu überdenken und die Entwicklung neuer Lösungen zu begünstigen, die helfen können die Informatik auch in anderen Bereichen medienorientierter Anwendungen voranzutreiben. Aber die meisten dieser Lösungen bleiben derzeit auf einzelne Projekte beschränkt und erlauben der wissenschaftlichen Gemeinschaft in den digitalen Geisteswissenschaften nicht, von Fortschritten in anderen Bereichen der Informatik wie Visual Analytics zu profitieren. Dies wird erst möglich, wenn wir über einzelne (vertikale) Anwendungen in den Geisteswissenschaften hinausgehen und eine fächer- und projektübergreifende (horizontale) Perspektive einnehmen.
In der Folge daraus ist es wichtig, zwei Arten oder Aspekte „digitalen“ Arbeitens in den Geisteswissenschaften zu unterscheiden:
- die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Digitalisaten bestehender Inhalte und von Repositorien solcher Digitalisate, und
- die computergestützte Analyse und Aufbereitung von digitalen Repositorien mit Hilfe modernster algorithmischer und informatischer Methoden.
Während die erste ursprünglich aus den Geisteswissenschaften selbst heraus entstanden ist und häufig als Digital Humanities bezeichnet wird, impliziert die zweite eine Stärkere Präsenz computergestützter Ansätze und könnte daher vielleicht als Computational Humanities bezeichnet werden.
Figur 1. Positionierung der Computational und Digital Humanities im Kontext von Informatik (Computer Science) und Geisteswissenschaften (Humanities).
Zwischen diesen beiden Aspekten zu unterscheiden hat erhebliche Auswirkungen auf die tatsächliche Arbeit, die durchgeführt wird. Im Hinblick auf das Know-how der Forscher und ihrer institutionellen Verortung entweder in den Geisteswissenschaften oder in der Informatik, kann ihre Forschung entweder mehr auf die Schaffung und Nutzung von Digitalisaten und entsprechenden Repositorien oder auf die Entwicklung und Umsetzung genuin programmatischer und konzeptueller Lösungen für die Geisteswissenschaften als einem Bereich der angewandten Informatik abzielen.
Die Bündelung von computergestützten Methoden für die Geisteswissenschaften in einem Bereich Computational Humanities scheint uns, gegenüber der individuellen Verortung solcher Bestrebungen in den Einzeldisziplienen, drei Vorzüge zu bieten: Erstens, ein verbesserter und flexiblerer Zugang der Geisteswissenschaften zu algorithmischen Methoden die generisch genug sind, um fachübergreifend Anwendung zu finden, darunter auch solchen die sich auf jeweils jüngste und neueste Forschungsergebnisse stützen. Solche Methoden, die die Informatik für verschiedene geisteswissenschaftliche Kontexte anbieten kann betreffen, unter anderem,
- die qualitative Verbesserung digitaler Quellen (Standardisierung von Schreibvarianten, Rechtschreibkorrektur, die eindeutige Identifizierung von Autoren und Quellen, die Kennzeichnung von Zitaten und Referenzen, die algorithmengestützte zeitliche Einordnung der Texte, etc.);
- die Menge und Struktur der Quellen, die skalierbar verarbeitet werden können (Verarbeitung von sehr großen Textmengen, Strukturierung nach Zeit, Ort, Autoren, Inhalten und Themen, Anmerkungen von Kollegen, Kommentaren aus anderen Ausgaben, etc.);
- die Art und Qualität der Analyse (breite, datengetriebene Studien, strikter Bottom-up- Ansatz unter Verwendung von Text-Mining-Tools, Integration von Community Networking Ansätzen, Kontextualisierung von Daten, etc.).
Zweitens können zusätzlich zu diesen generischen algorithmischen Methoden unter Verwendung von Erkenntnissen aus den Bereichen der Informationswissenschaft, der computergestützten Ontologien und Wissensdatenbanken digitale Ressourcen (wie zum Beispiel Geo- oder Personendatenbanken) aufgebaut werden, die sich disziplinenübergreifend wiederverwenden lassen, da sie den Anforderungen nicht nur eines, sondern mehrerer Fachgebiete Rechnung tragen, und flexibel genug gestaltet sind, um auch auf künftige Veränderungen im Anforderungsprofil reagieren zu können.
Drittens und letztens könnte die Ausbildung einer quasi-permanenten horizontalen Schicht der Computational Humanities zwischen den Säulen (oder Silos) der einzelnen Geisteswissenschaften zu einer gegenseitigen methodischen Befruchtung unter den geisteswissenschaftlichen Disziplinen führen. Fachspezifische, nicht-informatische Methoden könnten unter der Linse der Informatik betrachtet Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten aufweisen die einen methodologischen Dialog zwischen den geisteswissenschaftlichen Disziplinen anregen können. Dieser letzte Punkt ist zugegebenermaßen der Spekulativste, aber für die Geisteswissenschaften vielleicht der Wirkmächtigste.
Die Genese neuer wissenschaftlicher Betätigungsfelder in ihrem historischen und ideengeschichtlichen Umfeld gibt nicht notwendigerweise den besten Aufschluss darüber, in welche Richtung sich diese entwickeln werden. So wurde die moderne Atomtheorie von einem gelernten Meteorologen (Dalton) begründet, und der Erfinder des Begriffs Sauerstoff (Lavoisier) verband damit Ideen, die wir heute sicher ablehnen würden (u.a. dass es sich dabei um den zentralen Bestandteil von Säuren handelt, daher Sauerstoff). Die Tatsache, dass zahlreiche Digital Humanities Projekte institutionell und strukturell in einzelnen Geisteswissenschaften angesiedelt sind, muss nicht bedeuten, dass dies der einzige oder auch nur der beste Ansatz ist, um informationswissenschaftliche oder computergestützte Methoden für die geisteswissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen. Das skizzierte Betätigungsfeld der Computational Humanities lässt sich als Ergänzung der bestehenden Digital Humanities begreifen, das generische Methoden der Informatik über traditionelle geisteswissenschaftliche Fachgrenzen hinweg unter Umständen besser zum Einsatz bringen kann. Darüberhinaus könnte es zum Aufbau von digitalen Ressourcen beitragen, die über bloße Digitalisate weit hinausgehen und von mehreren Geisteswissenschaften gemeinschaftlich und nachhaltig genutzt werden können. Am Ende können die Computational Humanities vielleicht sogar als Katalysator für Synergien oder präzisere Abgrenzungen zwischen ureigentlich geisteswissenschaftlichen Methoden fungieren.