2. Was kennzeichnet die digitale wissenschaftliche Autorschaft?

vorgelegt von Anne Baillot (Centre Marc Bloch, Berlin/DARIAH-EU) und Thomas Ernst (Universität Duisburg-Essen)

2.1. Kollaborative Autorschaft in den digitalen Geisteswissenschaften

Der Übergang vom Wissen kompilierenden "Gelehrten" zum forschungsbasierten "Wissenschaftler" um 1800 hatte auch zur Folge, dass wissenschaftliche Erkenntnisprozesse fortan in abgeschlossene Monografien und Aufsätze mündeten, die über die Zuschreibung einer individuellen Autorschaft verifiziert wurden. Dieses Vorgehen ist in digitalen wissenschaftlichen Veröffentlichungen weiterhin möglich, wenn man beispielsweise die Monografie einer Autorin oder eines Autors als PDF veröffentlicht.

Die Potenziale des digitalen Medienwandels werden für eine bessere geisteswissenschaftliche Praxis jedoch erst wirklich genutzt, wenn Erkenntnisprozesse stärker kollaborativ betrieben und als dynamisch verstanden und entsprechend transparent abgebildet werden. Es ist gerade ein Vorzug digital gestützter Erkenntnisprozesse, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf verfügbare Texte und Ressourcen beziehen und diese in einem andauernden Prozess kommentieren, modifizieren und verbessern können. Hierzu bieten sich "flüssige" Formate wie beispielsweise Wikis, Living Books, Open-Review-Plattformen oder Weblogs an.

Komplexe Autorschafts- und Beiträgerrollen und ihr Impact

In solchem Schreibprozessen müssen verschiedene Autorschafts- und Beiträgerrollen zu verschiedenen Zeitpunkten der Produktion, Distribution oder produktiven Rezeption/Nutzung einer Ressource ausgewiesen werden. Dies setzt aber voraus, dass sie zunächst definiert werden. Lässt man sich auf diese Ausdifferenzierung der Rollen und Verantwortlichkeiten ein, wird nur offensichtlicher, dass auch gedruckte wissenschaftliche Veröffentlichungen in verschiedenem Maße kollaborativ entstanden sind.

Der bisherige reduktionistische Lösungsansatz, in kollaborativen Schreibverfahren durch die Reihenfolge von Namen eine eindeutige Hierarchie der Autoren zu suggerieren, bleibt der Grundidee von klar bestimm- und hierarchisierbaren Einzelautorschaften verhaftet. Demgegenüber ist es notwendig, die komplexen Autorschaftsrollen in den digitalen Geisteswissenschaften explizit zu differenzieren und zu benennen sowie eine entsprechende Zuschreibungskultur institutionell zu etablieren.

Zu den möglichen nennenswerten Rollen einer digitalen wissenschaftlichen Autor- oder Beiträgerschaft gehören:

  • Hauptherausgeber/in, Nebenherausgeber/in, Kurator/in, Moderator/in;

  • Programmierer/in, Datendesigner/in, Kodierer/in, Datenanalyst/in;

  • Hauptautor/in, Nebenautor/in, Co-Autor/in,[2] Interviewer/in, Panelist/in, Mitdiskutant/in, Archivar/in, Annotator/in, Tagger/in;

  • Lektor/in, Kommentator/in, Redakteur/in, Textgestalter/in;

  • Rechercheur/in, wissenschaftliche Hilfskraft;

  • Lizensor/in, Rechtsberater/in;

  • Subkribent/in, Crowdfunder/in, Sponsor/in, Crowdsourcer/in.

Diese Rollen, die darüber hinaus nach verschiedenen Graden abgestuft werden können, sollten im Kontext des jeweiligen wissenschaftlichen Beitrags differenziert und klar zugeschrieben werden. Dynamische Projekte sollten zudem in klar referenzierbare Versionen aufgeteilt werden. Dies würde die persistente Markierung ermöglichen, auf welche aktuelle oder frühere Version eines Textes oder einer Datenbank sich die jeweilige Mitarbeit in einer entsprechenden Rolle bezieht. Auf diese Weise kann zudem der Impact einer spezifischen wissenschaftlichen Tätigkeit noch genauer bestimmt werden, wobei es empfehlenswert ist, die aktuell zentrale Zitationsform ‚Autor/Jahr’ (z.B. Schmidt 2010) bei dynamischen und sozialen Veröffentlichungen auf ‚Kurztitel/Version’ (DHd-Publ/01) umzustellen. Eine solchermaßen geänderte Zitationsweise wäre nicht nur wissenschaftlich präziser, sie würde zugleich die Relativierung der Autorinstanz für die Verifikation des jeweiligen Erkenntnisprozesses durch eine stärkere Konzentration auf die Dynamik und Kollaborativität der Schreibverfahren selbst abbilden.

Schwärme in und außerhalb der Wissenschaft und die anonyme bzw. pseudonyme wissenschaftliche Autorschaft

In der digitalen Wissensproduktion werden Begriffe wie "Schwarm" oder "Crowd" für eine große Masse genutzt, bei der die namentliche Differenzierung und Individualisierung kaum noch möglich oder sinnvoll ist. Dies gilt beispielsweise bei der Erstellung von großen Datenbanken, der Arbeit an freier Software oder auf Dokumentationsplattformen. Auch die neuen Partizipationsmöglichkeiten für Bürger , die zwar nicht in wissenschaftlichen Institutionen arbeiten, sich aber konstruktiv am wissenschaftlichen Diskurs beteiligen, können fruchtbar gemacht werden. Dies hilft der Wissenschaft doppelt: einerseits vergrößert sich die Zahl potenzieller Beiträger zum wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, andererseits hilft diese Entwicklung bei der Dissemination wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gesellschaft.

Unter anderem aus institutionellen Gründen kann es mitunter sinnvoll und im Sinne einer besseren wissenschaftlichen Praxis sein, wenn Beiträger im Wissenschaftsbereich  anonyme oder pseudonyme Autorschaften nutzen, die sich beispielsweise auf "digitale Identitäten" beziehen. Solche Autorschaftsnamen oder die Kollektivautorschaft als "Schwarm" ist in den digitalen Geisteswissenschaften jedoch nur produktiv, wenn sie innerhalb einer Community genutzt werden, die ihren Erkenntnisprozess durch klare Methoden, Kategorien und Regeln definiert hat, und in Projektkontexten, die offen zugänglich und inhaltlich nachprüfbar sind.[3]

2.2. Best-Practice-Beispiele

Living Books, Open-Review-Bücher und Social Reading/Commenting

  • Kathleen Fitzpatrick: Planned Obsolescence. Publishing, Technology, and the Future of the Academy, Auf der Plattform: Media Commons Press. Open Scholarship in Open Formats. [online]

  • Matthew K. Gold: The Digital Humanities Moment. Die Expanded Open Access-Edition des Buches Debates in the Digital Humanities. [online]

  • Helene Hahn u.a.: DH Handbuch [online]

  • Nick Montfort / Patsy Baudoin / John Bell / Ian Bogost / Jeremy Douglass / Mark C. Marino / Michael Mateas / Casey Reas / Mark Sample / Noah Vawter: 10 PRINT CHR$(205.5+RND(1)); : GOTO 10. Cambridge; London 2013. [online]

  • Kodierung der Verantwortungszuordnung nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative: Das Element <respStmts> [online]

Kollaborative Datenbanken und virtuelle Forschungsumgebungen

  • TextGrid. Virtuelle Forschungsumgebung für die Geisteswissenschaften [online]

  • CENDARI [online]

  • Kollaborative Transkriptionsplattformen: Transcribe Bentham [online], Old Weather: Whaling Logbooks [online], Annotate [online], Shakespeare’s World [online]

Wikis und kollaborative Dokumentationsplattformen

  • Diverse Autoren: GuttenPlag Wiki. [online]

  • Diverse Autoren: VroniPlag Wiki. [online]

  • Diverse Autoren: Wikipedia. [online]

Soziale Medien

  • Diverse Autoren: Twitter-Hashtag #dhd2014. [online]

Weblogs

  • de.hypotheses.org. Wissenschaftliche Blogs: Redaktion. [online]

  • Weblog mit eingebautem Peer-Reviewing /Annotationsoption: hypothes.is [online] nach den Prinzipien der Open Annotation [online]

2.3. Empfehlungen an a) DH-Community, b) Politik, c) Förderinstitutionen/akad. Institutionen

Empfehlungen an die DH-Community

Für die digitalen Geisteswissenschaften ist es unerlässlich, dass sich ein bewusster Umgang mit kollaborativen Autor- und Beiträgerschaften etabliert und die jeweiligen Rollen differenziert, klar und persistent zugewiesen werden.

Daneben ist es eine wissenschaftspolitische Aufgabe der DH-Organisationen und ihrer Vertreterinnen und Vertreter, auch in der politischen Öffentlichkeit und in den akademischen Institutionen diese Formen einer kollaborativen (und ggf. auch anonymen oder pseudonymen) Autorschaft als Teil einer besseren wissenschaftlichen Praxis zu legitimieren und zu etablieren. Dies bedeutet zum einen eine kompetente Hilfestellung bei der Aufbereitung der zu berücksichtigenden Rollen, Kompetenzen und Zuweisungen und zum anderen die Einrichtung von wissenschaftlichen Organen zur selbständigen Evaluierung solcher Rollen im Kontext der einschlägigen online-Ressourcen.

Empfehlungen für die Förderinstitutionen und akademische Institutionen

Wissenschaftliche Förderinstitutionen entscheiden sich bei der Vergabe von Forschungsmitteln im Regelfall auch für die Förderung eines spezifischen Autorprofils, feste Stellen an Universitäten werden gerade auch auf Basis individueller  Schriftenverzeichnisse (Monografien und Aufsätze mit Einzelautorschaft) vergeben. Für die Stellenprofile der digitalen Geisteswissenschaften ist allerdings eine Vielzahl von methodologischen, analytischen, informationellen und gestalterischen Fertigkeiten wichtig, die im Regelfall in kollaborativen Projektzusammenhängen erworben werden. Daher sollten diese Institutionen Verfahren entwickeln, wie sie differenzierte Autorschafts- und Beiträgerrollen als Teil ihrer Vergabepraxen nutzen können.

Zudem ist es wichtig, dass in den Digital Humanities noch stärker interdisziplinär, historisch und kritisch zu Fragen des geisteswissenschaftlichen Autorschaftsbegriffs, zur Geschichte des kollaborativen Schreibens und zur Wissenschaftlichkeit verschiedener Textformate geforscht wird.

Empfehlungen an die Öffentlichkeit und die Politik

Digitale wissenschaftliche Publikationen spielen weit mehr als ihre analogen Vorbilder auch in die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit hinein und können gerade durch ihre Transparenz und soziale Medialität in einen offenen Diskurs mit anderen gesellschaftlichen Gruppen treten. Die Bedeutung einer solchen Popularisierung des wissenschaftlichen Wissens für seine gesellschaftliche Verbreitung und Nutzung sollte innerhalb der akademischen Institutionen aufgewertet werden, zumal die Digital Humanities auf diese Weise ihre Rolle als die eigentliche kritische Reflektorin der digitalen Gesellschaft stärken können. Auch spezifisch digitale Veröffentlichungsformen wie Blogpostings und die intensive Nutzung sozialer Medien zur Wissenschaftskommunikation oder die Mitarbeit an Datenbanken und virtuellen Forschungsumgebungen sollten als wichtiger und innovativer Teil des wissenschaftlichen Publizierens berücksichtigt werden.

Medien, Politik, Universitäten und Schulen sollten eine Kultur vertreten, in der die mediale Konstellation einer Interaktion zwischen wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren und sogenannten "Laien" produktiver gemacht werden kann.  Die in solchen digitalen Öffentlichkeiten notwendigen Medienkompetenzen sollten deshalb wesentlich stärker in der akademischen und schulischen Lehre verbreitet werden.


  • [2] Es könnten natürlich auch mehrere Autor/innen als Haupt-, Neben- oder Co-Autor/innen auf derselben Ebene geführt werden.
  • [3] Der jeweilige Impact wird zunächst einer anonymen oder pseudonymen Autorschaft zugeschrieben, kann jedoch später auch auf einen anderen Autor- oder Beiträgernamen übertragen werden, wenn diese Verbindung von Beginn an bei einer dritten Stelle hinterlegt wurde und nachweisbar ist.